Luppenau

                    Der Altar in der Kirche zu Lössen

SAALE-ELSTER-AUEN-KURIER - Dezember 2020  - Ilja Bakkal -   

Altar in der Lössener Kirche
Aus der allgemeinen kulturellen Lethargie des Corona-geplagten Jahres 2020 erhob sich der Tag des offenen Denkmals für die Lössener Kirche. Der Kurier berichtete über diese bemerkenswerte Deutschstunde zum Thema Heimat. Aus all den Texten und Gedichten hat sich mir ein Satz eingeprägt: „Heimat ist, was manche Menschen ein Leben lang suchen.“ Es setzt nicht unbedingt den Verlust der Heimat voraus, das Bemühen eine neue Heimat zu finden, um sich diesem Thema zu widmen. Es muss nicht einmal etwas Neues sein, was man entdeckt, vielmehr kann schon, die wie auch immer initiierte Beschäftigung mit etwas Altbekanntem, schon immer Dagewesenem dazu beitragen. So möchte ich Sie bitten, mir fiktiv in die über 500 Jahre alte Lössener Kirche zu folgen, Platz zu nehmen, vorzugsweise etwas weiter hinten. Dort ist es sicherer.
Nicht wegen der nun folgenden Geschichte von Liebe, Verrat und erbarmungsloser Brutalität, sondern eher wegen der Scheinwerfer, die wir aufbauen und auf den Altar richten, den Sie wohl alle kennen aber bald mit anderen Augen sehen werden.
„Der dreiflügelige Schnitzaltar mit stehenden Heiligenfiguren stammt aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. Die drei gekrönten Figuren im Mittelteil stellen die heilige Barbara mit Kelch, Maria mit dem Christkind und eine weitere Heilige dar. Der linke Flügel trägt das Bildnis Magdalenas mit der Salbbüchse und der rechte Flügel das des St. Nikolaus als Bischof, die Rechte erhebt er zum Segen, in der linken hält er ein Buch.“ Diese Information aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wird in „Augenblicke Bd. 1“ durch Dr.Peter Ramm bestätigt. Mehr scheinen wir über den Lössener Altar vorerst nicht zu finden.

Maria Magdalena

Insbesondere der sich wiederholende Hinweis auf eine „weitere Heilige“ ist unbefriedigend. Im Licht der Scheinwerfer tritt der Altar aus bescheidener, zurückhaltender Dämmerung farbenfroh und für sein Alter relativ unversehrt hervor. Eine millimeterstarke Staubschicht, die sich nicht abwedeln lässt, bedeckt vorzugsweise grüne, ockerfarbene, blaue und braune Oberflächen, während das Gold des ornamentalen Schnitzwerks, des Hintergrundes und der Gewänder in nahezu ursprünglicher Reinheit erstrahlt.
Im linken Flügel blickt Maria Magdalena (Maria von Magdala, Magdalena) mit geneigtem Kopf nach oben aus dem Altar heraus. Im Gegensatz zur Mitra des Bischofs und den Kronen der übrigen Figuren verbirgt lediglich ein voluminöses Tuch ihre Haare. Die rechte Hand weist auf den Verschluss des Salbengefäßes. Über dieses Attribut wird sie als die beschriebene Heilige identifiziert. Eine Aufnahme von links unten unterstreicht feine, intelligente, ausdrucksstarke Gesichtszüge, die sie von den übrigen Frauengestalten abhebt. Sie wirkt auf mich überlegen, als hätte der Künstler mit besonderer Hingabe an ihr gearbeitet. Maria aus Magdala am See Genezareth ist die zentrale Gestalt der an der Jesusbewegung aktiv teilnehmenden Frauen. Sie wird als die Gefährtin Jesu beschrieben. Eine angenommene Liebesbeziehung wird, durch ein Loch im historischen Papyrus aus dem zweiten Jahrhundert gerade an der Stelle, in die auf den „Mund“ geküsst hineininterpretiert wird, geschmälert. Letztendlich deutet die theologische Forschung diesen Kuss als symbolische Vereinigung von Geist (Maria) und Erkenntnis (Jesus) und entromantisiert ihn damit vollends. Maria wohnte der Kreuzigung bei, bemerkte das Fehlen der Leiche in der Grabeshöhle und hatte eine Erscheinung, auf die die Auferstehungsbotschaft zurückzuführen ist. Zum Ende des 6. Jahrhunderts kam es zu einer Vermischung der Biografien dreier neutestamentlicher Frauen: Der beschriebenen Maria Magdalena, einer anonymen Sünderin, die Jesus die Füße wusch und salbte und der Maria von Bethanien, die wiederum als Namensgeberin für die Sünderin fungierte. Die Sünderin wurde im Lauf der Zeit zur Prostituierten. Daraus entstand der Stoff für Romane, Filme und eine Faszination, die bis in die Gegenwart reicht. Bis in die 90er Jahre unterhielten römisch-katholische Ordensschwestern Magdalenenheime zur Aufnahme „gefallener“ Mädchen.


Heilige Barbara.
Die Gesichter der drei Figuren im Mittelteil sind offensichtlich von derselben Hand geschnitzt. Die Routine lässt die Maria mit dem Kinde flankierenden Frauen im gleichen Kleid erscheinen, ebenso sind die Frisuren, wenn auch gespiegelt, gleich.
Die Heilige Barbara streckt uns in offener Geste die rechte Hand entgegen, während ihr Blick doch eher ins Innere gerichtet ist, wozu sie auch allen Grund hat. Der Kelch, der von der anderen Hand gehalten wird, ist das bezeichnende Attribut. Barbara ist eine der bekanntesten christlichen Heiligen, wenn auch laut ökumenischem Heiligenlexikon historisch nicht belegt. Die Barbaralegende entstand im 7. Jahrhundert. Die Details ihres zum Ende des 3. JH. beginnenden Lebens sind widersprüchlich, nicht jedoch ihre Schönheit und ganz besonders ihre Intelligenz, die sie befähigte abseits des Mainstreams selbständig kritisch zu denken und zu fragen. Barbara hinterging ihren abwesenden heidnischen Vater und ließ sich taufen. Dieser lieferte sie darauf dem römischen Statthalter Marcianus aus, der die junge Frau einem unbeschreiblichen, in den einschlägigen Werken detailliert beschriebenen und illustrierten Martyrium unterzog, in dessen Finale der Vater die Tochter eigenhändig enthauptet haben soll. In diesem Zusammenhang spielt die anfängliche Gefangenschaft in einem Turm eine Rolle. Später, schon im Todesverlies sitzend, benetzte sie einen trockenen Zweig mit Wasser aus ihrem Becher, worauf dieser erblühte. Als in der letzten Phase des Lebens ihr von Folter und Verstümmelung entstellter Körper dem Mob zur Schau gestellt wurde, verhüllte sie sich mit Wolken und Nebel und den scharfrichtenden Vater wiederum traf unmittelbar der Blitz. Die heilige Barbara ist u.a. Patronin der Türme, des Bergbaus, der Artillerie, diverser Baugewerke, gegen Feuersgefahr, Unwetter, Pest, für eine gute Todesstunde. Ihre Attribute sind neben dem Kelch die Hostie, Kanonenrohr, Fackel und ein Turm mit drei Fenstern.

Maria mit dem Christkind
Zentrale, wenn auch nicht künstlerisch wertvollste Figur, ist Maria mit dem Jesuskind Sie trägt unter ihrem goldenen Umhang ein leuchtend grünes Kleid von gleichem Schnitt wie ihre Nachbarinnen. Der wohlgenährte, unbekleidete, seine Männlichkeit zur Schau stellende Knabe konzentriert sich auf eine ovale rote Frucht, die er schon allein zu halten vermag. Wenn auch seine Blickrichtung zum linken Flügel weist und die Hand Maria Magdalenas wie auch die Neigung ihres Kopfes zu ihm gerichtet sind, scheint mir eine Interaktion der später innig Verbundenen vom Künstler nicht beabsichtigt.
Die „weitere Heilige“ trägt den gleichen gold-blauen Umhang, die Taille ist nicht ganz so eng geschnürt und der Umhang lässt viel Stoff des schlichten braunen Kleides sehen. Die rechte Hand, an der alle Finger erhalten sind, ist von harter Arbeit und Arthrose gezeichnet. Sie scheint älter, sehr individuell, nicht zu dem jugendlichen Standard-Gesicht passend. In der Tat unterscheidet sich diese Hand in Ausarbeitungsgrad und Charakterisierung von allen anderen Händen, sogar von der eigenen linken, den Saum des Umhangs haltenden. Ein eigentliches Attribut fehlt und damit ist scheinbar keine Zuordnung möglich. Das ökumenische Heiligenlexikon bietet ein umfangreiches Tabellenwerk der Attribute.
Sucht man hier nach einem „schlichten Kleid“ führt das eindeutig auf Martha von Bethanien im Jahre 1 in al Eizarya (Palästina) geboren und starb 84 in Marseille oder Tarascon (Frankreich). Sie war die Schwester von Maria von Bethanien und -

Martha von Bethanien
hier widersprechen sich die Evangelien - von Lacarus. Sie zählte zum engeren Freundeskreis Jesu und zu seinen Jüngerinnen. Sie gilt als hausfraulich, geübt im Umgang mit Tieren und der Arbeit auf dem Hof. Martha soll mit ihren Geschwistern und andern Gefährten von christenfeindlichen Juden in einem manövrierunfähigen Boot ausgesetzt worden sein. Sie landete wundersam in Marseille, gründete dort mit dreißig Gleichgesinnten ein Kloster, wo sie bis an ihr Lebensende blieb. Sie wird im Zusammenhang mit der Tötung oder Zähmung oder Rettung eines Drachens beschrieben, dem, nachdem er alle Schafe der Region gefressen hatte, bereits die Töchter geopfert werden mussten. Ihr gewohnter Umgang mit Tieren befähigte sie zu dieser Heldentat, für die sie lediglich Weiwasser/Rauch, das Kreuzzeichen und ihren Gürtel zum Wegführen des Ungeheuers benötigte. So sind ihre Attribute neben dem schlichten Kleid der Kochlöffel, Weihwedel oder –Kessel, sowie der Drache am Strick. Martha ist u.a. Patronin der Häuslichkeit, des Gastgewerbes, der Bildhauer und Maler.

Nikolaus von Myra
Aus dem rechten Flügel blickt ein etwas zu kleiner Sankt Nikolaus würdevoll und offen in das Kirchenschiff. Das Gesicht ist vom Staub nahezu geschwärzt, lediglich um die Augen ist seine angestammte Hautfarbe zu erkennen. Geboren wurde er 283 in Patar, heute Ruinen bei Kalkan, er starb um 348 in Myra, beides in der Türkei. Auch bei diesem legendären Volksheiligen verweben sich Biografien zweier Personen. Nikolaus von Myra wurde mit 19 Jahren zum Priester geweiht und später zum Bischof von Myra berufen.
Als seine Eltern an der Pest starben, erbte er und verteilte das Vermögen an Arme. So soll er Töchtern aus der Nachbarschaft zu einer angemessenen Mitgift verholfen haben, in dem er heimlich Geld durch die Fenster oder den Kamin warf. Anderenfalls hätten die mittellosen Mädchen sich prostituieren müssen. Die Geschichte des Universalheiligen liest sich wie eine Aufeinanderfolge von Rettungstaten und Wiederherstellungen der Gerechtigkeit. Darüber hinaus war er in religiösen Fragen kämpferisch und gleichermaßen ausgleichend. Der mit Nikolaus im Zusammenhang stehende Brauch des Kinderbeschenkens, wenn auch von Luther verspottet, hält sich wohl in alle Ewigkeit. Die Attribute sind u.a. je drei Goldkugeln, Steine, Brote oder Äpfel, Aber auch Schiffe, Steuerrad, Anker. Sein Patronat zielt beispielsweise auf Mädchen, Jungfrauen, Kinderwunsch, Gebärende, Alte, Feuerwehr, Pilger und Reisende, Diebe und Verbrecher, der Schifffahrt, Richter, Apotheker und Schnapsbrenner … 2014 haben russische Wissenschaftler an seinen (?) Gebeinen Hinweise auf Folgen eines Gefängnisaufenthaltes mit Kälte und Feuchtigkeit gefunden. Wir können den Altar nicht schließen, seine Flügel sind festgenagelt. Zu Füßen der wohl austauschbaren durch den Sockel genagelten Figuren finden sich frische Späne, die auf aktive Holzwürmer schließen lassen. Der Altar ist offensichtlich kein herausragendes Kunstwerk seiner Zeit und wurde in der Vergangenheit restauriert. Aber die Jahrhunderte adeln ihn und er ist unser.

Ein Stück materieller Heimat, das eine Geschichte erzählt, ein Zeugnis weit zurückliegender Handwerkskunst, das sich so vertraulich-bescheiden von dem nachfolgenden, für unsere Region so typischen prunkvollen barocken Kirchenausstattungen unterscheidet. Eine Geschichte voller historischer Fehler und Widersprüche, die so nicht gewesen sein kann. Aber die Menschen haben jahrhundertelang fest an sie geglaubt und damit wird sie zum realen Bestandteil ihres Lebens. Mir scheint, dass Maria Magdalena, Barbara, Martha, und Nikolaus in diesem Jahr durch das abgesagte Krippenspiel in den Vordergrund treten. Sie verkörpern Tugenden, die über Jahrhunderte unverändert wertgeschätzt werden, sie zeigen auch, wie schwer es sein kann, als Zeitzeuge den Wahrheitsgehalt einer Nachricht zu beurteilen und wie hartnäckig sich falsche Informationen halten. Ich habe zu diesem Text umfangreich recherchiert aber meine eigenen Interpretationen hinzugefügt. Ob alles, insbesondere die Identifizierung der „weiteren Heiligen“ wirklich haltbar ist, darf angezweifelt und diskutiert werden. Es ist durchaus vorstellbar, dass die ursprüngliche, ein Attribut haltende Hand verlorengegangen ist und durch die beschriebene ersetzt wurde. Frohe Weihnachten, bleiben Sie gesund! Ein Patronat für Corona gibt es nicht. Auch sind unsere Heiligen aus Lössen nicht für Seuchen im Allgemeinen zuständig. Für 2021 wünsche ich uns die Rückkehr in ein normales Leben. Jeder wäre bereit etwas dafür zu tun, soll aber Gewohntes, Selbstverständliches, Liebgewordenes unterlassen. Das fällt besonders schwer.

Mit Zuversicht, Ilja Bakkal